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Los geht's

Das Leben nach dem Hunger

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Text und Illustrationen von Linda Möllers
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Vorurteil I

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20 Jahre
Magersüchtig von 2010 bis 2015
Tiefgewicht: 36 Kilo bei 1,70 Meter
Heute: 73 Kilo bei 1,90 Meter


"Was ich stets an mir gemocht habe, ist mein Humor "

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Familie, Wandern, Sport, Künste

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Wenn Janik erzählt, sprudeln die Wörter wie bei einem Wasserfall aus ihm heraus. Er gebraucht Begriffe wie „absurd“ und „metaphysisch“. Janik ist ein helles Köpfchen. Er erzählt begeistert von seinem Geschichts-, Germanistik- und Religionsstudium, das ihm unheimlich gefalle. Die Leute seien unfassbar toll, alles gebe ihm frischen Input. Janik liebt das Wandern in den Bergen, das Meer, Literatur, Theater, seine Familie, die Nachbarskatze, die so eine beruhigende Wirkung auf ihn hat.

Wenn Janik so erzählt, ist schwer zu glauben, dass er dunkle Zeiten durchlebt hat, sogar an persönlichen Tiefpunkten stand. Schließlich hat Janik eine wunderbare Kindheit verbracht – er berichtet von tollen Urlauben, einer tollen Familie, einem tollen Haus. Bis er sich im Alter von 12 Jahren während einer Klassenreise erstmals beim Essen einschränkte. Er habe intuitiv gewusst, wo er kürzertreten musste. Dabei war er immer sehr schlank gewesen, hatte viel Sport getrieben. Nur bei seiner Mutter habe er mitbekommen, dass sie mit Magersucht zu kämpfen gehabt hatte, als sie etwa in seinem Alter gewesen war. Noch heute ist sie auffallend dünn. Aber wirklich realisiert habe er nicht, was die Gedanken beim Abnehmen bewirken können. „Ich bin stufenweise reingerutscht“, erinnert sich Janik zurück. Er habe sich mindestens zehn Mal am Tag gewogen, bis ihn der irritierte und überforderte Kinderarzt an die psychotherapeutische Station eines Uniklinikums verwies. Viereinhalb Monate verbrachte Janik in der Klinik. Der sonst so ausgeglichene, selbstreflektierte Junge wird mit einem Mal aggressiv, rebelliert. Das Unverständnis, warum er überhaupt behandelt werden sollte, macht Janik unfähig zur Kooperation. „Es war wie im Film. Mir ist erst im Nachhinein klar geworden, was da eigentlich los war.“

Janik nimmt etwa acht Kilo zu und wird entlassen. Es geht ihm gut, bis die Klassen 2013, kurz vor dem Abitur, in die Kursstufen übergehen. „In der 11. Klasse wurde uns weisgemacht, dass wir jetzt Entscheidungen treffen müssten, die unser Leben bestimmen.“ Er habe Angst gehabt, sich haltlos gefühlt. Im Nachhinein schüttelt Janik den Kopf. Er hätte so vieles erleben können, doch es fühlt sich an, als habe er sich die letzten fünf Jahre selbst genommen. „Man lernt aus so etwas“, sagt Janik. Doch als er kurz vor dem Abi stand, erlitt Janik einen Rückfall und hungerte sich von 52 Kilo auf 36 Kilo runter.


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Familie, Wandern, Sport, Künste

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Dass Jungen magersüchtig werden, ist fast schon ein Tabuthema. Wollen sie nicht alle stark und breit sein? Es sei schon absurd, dass er immer dünner wurde, nahezu ein Protest, sagt Janik im Nachhinein. Zumal, weil Janik einfach nicht verstehen kann, dass die Jungen in seinem Alter ins Fitnessstudio zum Pumpen gehen und sich auf stupide Weise Muskeln antrainieren. Janik spielt trotz mangelhafter Ernährung Fußball und macht ausgedehnte Spaziergänge – allein, zwei bis drei Stunden lang. Er ist traurig und verzweifelt. Auch von seinen besten Freunden distanziert er sich. 2014 ist Janik ist am Tiefpunkt als er – auch von Depressionen geplagt – in eine Klinik gebracht wird. Die Sondierungen, die Medikamente, die unangepasste Therapie ließen ihn ganze zehn Monate lang geradezu verzweifeln.

Dann kommt er in das Klinikum Dritter Orden München, wo er eineinhalb Jahre in einer Wohngemeinschaft aufgenommen wird. Das Aufbauprogramm in München zeigt seine Wirkung: Janik nimmt 20 Kilo zu, geht sogar in die Schule und schafft schließlich sein Abitur mit 1,2. Doch vor allem sei es das soziale Umfeld und die neue Umgebung gewesen, die ihn so aufgebaut hätten, erzählt Janik. Zum einen die Therapeutin, die ihm Empathie entgegenbrachte, ihm aber auch mal einen dicken Arschtritt verpasste. Und zum anderen eine Leidensgenossin, die unter Binge Eating litt und Janik  unter ihre Fittiche genommen habe. „Sie war unheimlich herzlich, hat aber gern auch mal die Regeln gebrochen.“ Wenngleich Janik nach seinem Aufenthalt im Klinikum zunächst zögerlich in Richtung neues Leben geht, scheinen ihn seine Erfahrungen in der 12. Klasse letztlich zu heilen. „Ich habe Pläne geschmiedet, Träume gewagt, Grenzen ausgetestet, verrückte Sachen ausprobiert und andere Zielrichtungen eingeschlagen. Mittlerweile bin ich gesund“, sagt Janik.

Auch die Symptomgedanken sind nahezu gänzlich verschwunden. Mit Freunden könne er wieder essen und genießen, auch wenn er noch lange bei Nahrungsmitteln mit hohem Fettgehalt wie Milch, Käse und Sahne gezögert habe. Janik liebt asiatisches Essen und Pilze in Rahmsoße mit Kartoffelknödeln. Heute ist der überaus intelligente 20-Jährige, ein strebsamer Querdenker, der „mit den Essstörungen durch“ ist, auch wenn er manchmal zur Traurigkeit tendiert. Aber neue Perspektiven und sämtliche Bereiche des Lebens, die er während dieser fünf Jahre verpasst hat, treiben ihn an. Denn seiner Meinung nach „gibt es einfach wunderbare Dinge zu tun im Leben“.

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Vorurteil II

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37 Jahre
Essgestört seit 1997

"Ich mag meinen Humor."
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Pferde, Farben, Rezepte

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Pferde sind schon immer Melanies Lieblingstiere gewesen. Auch Hunde, Katzen, Kaninchen, überhaupt alles, was Fell besitzt. Für sie spielt Melanie gern den „Futterapparat“, bringt viel Geduld auf, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Beim Spazierengehen mit ihrem Pflegepferd Meli, das Melanie liebevoll „Melchen“ nennt, kann sie besonders gut abschalten. Tiere spenden Melanie Kraft und Freude. In ihrer Kindheit, als die ganzen Probleme in der Familie, mit ihrer Gesundheit, in der Schule und Ausbildung auf sie einprasselten, schaute Melanie den Pferden stundenlang beim Grasen zu. Und letztlich war es bei einem Ausritt, als es bei Melanie so richtig Klick gemacht hat. Als sie endlich begriffen hat, dass sich endlich etwas ändern muss. Dass sie endlich von den Magersucht-Gedanken loskommen möchte.

Wenn Melanie heute eine Herausforderung meistert, klebt sie einen Elefanten-Sticker in ihr Ernährungstagebuch - keinen Pferdesticker. „Weil ich dann eine Aufgabe bewältigt habe, die riesig und unüberwindbar schien“, erklärt sie. Zum Beispiel, wenn sie dem zwanghaften Drang, unbedingt Sport treiben zu müssen, nicht nachgibt. Früher hat es nämlich nicht gezählt, ob sie keine Lust oder keine Zeit für Sport hatte. Da ging es einfach nur darum, Kalorien zu verbrennen. Wieder das auszugleichen, was man an Nahrung zu sich genommen hat. Die Kontrolle über das zu gewinnen, was man in seinem Leben noch am ehesten beeinflussen kann. Melanie verspürte dieses Hochgefühl, nach dem Erbrechen. Macht und Erleichterung, im wahrsten Sinne des Wortes.

Melanie kämpft gegen diese Zwänge an. Wenn sie standhaft ist, hat sie sich einen Elefantensticker verdient.

Trotzdem treibt Melanie so oft wie möglich Sport. Aber nur dann, wenn sie auch wirklich will und es Spaß macht. Neulich hat sie dank ihres Freundes das Kick-Boxen entdeckt. „Damit kann ich richtig Dampf ablassen.“ Und als ich Melanie im Café treffe, berichtet sie stolz, dass sie schon joggen war. Eine Stunde kann sie mittlerweile unterwegs sein. An anderen Tagen geht sie ins Fitnessstudio. „Lass mich raten – du willst abnehmen“, sagte der Trainer beim ersten Mal zu ihr, als er Melanies Trainingsplan erstellen wollte. „Nicht wirklich“, war Melanies Antwort gewesen. Schließlich ist ihr Ziel weitaus komplexer, viel weitgreifender zu verstehen:

Ich möchte einen gesunden, starken, definierten Körper,
in dem meine Seele gerne wohnt.

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Pferde, Farben, Rezepte

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Dass Melanie wieder ein Sättigungsgefühl verspürt und die Dinge wieder nach etwas schmecken, ist ein großer Erfolg. Möglich gemacht hat es das Therapienetz Essstörung, von dem Melanie vor fünf Jahren in der Zeitung las. Erst mit dessen Angebot, dem einzelbetreuten Wohnen, sowie die Treffen mit dem Psychiater, Schmerztherapeutin, Ernährungsberaterin und Psychologin, trugen dazu bei, dass sich Melanie besser fühlte. Ende März 2018 wird sie sich ganz von der Betreuung lösen und ihren Weg allein bestreiten. Nicht, ohne ihre Erfahrung zu teilen und als eine Art „Vermittlerin“ im Auftrag des Therapienetzes unterwegs zu sein.  

Melanie weiß, dass sie jetzt allem gewachsen ist, was sie zu bewältigen hat: Von jeher leidet sie unter chronischen Schmerzen. Nach der langen Zeit, in der sie erbrochen hat, hat sie Schmerzen in der Speiseröhre, der Kehlkopf ist verschleimt. Magen und Verdauung arbeiten nicht richtig. Auch, als Melanie schon nicht mehr erbrechen wolle, fand sie am nächsten Morgen eine unreinliche Toilette vor. Um das nächtliche Schlafwandeln zu unterbrechen, knüpfte sie ein Netz in ihrem Flur, das sie an dem Gang zur Toilette und dem unbewussten Erbrechen hinderte – mit Erfolg. Melanie ist stark. Doch sie weiß:

Ein paar Krümel werden immer bleiben.


 „Natürlich frage ich mich, wer ich heute wäre, wenn das alles nicht passiert wäre“, sagt Melanie nachdenklich und ihre Hand, die auf ihrem Unterarm liegt, greift etwas fester zu. Früher glaubte sie, mit der Essensregulierung und dem Erbrechen die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Aber die hat sie dadurch gewonnen, dass sie sie abgegeben hat, nämlich bei den Dingen, die sie nicht beeinflussen muss. Melanie ist gelassen, berichtet von den Erfolgen, die sie heute hat. „Wenn ich Hunger habe, dann ist das eben so. Und wenn ich Lust auf Süßes oder Fettiges habe, dann ist das vielleicht nicht ideal, aber es ist das, was mir mein Körper signalisiert. Das ist nicht schlimm, weil sich auch mein Geschmack verändert hat. Ich achte darauf, was von meinem Körper kommt.“ Nachdem sie mit der Ernährungsberaterin gelernt hatte, wieder nach ihren Bedürfnissen zu essen, liebt Melanie Küchenexperimente. Zurzeit findet sie großen Gefallen an der Herstellung von Energiebällchen aus Nüssen und Datteln. Und vor dem Schlafengehen braucht sie eine besondere „Seelennahrung“: warme Milch mit Backkakao, Honig und Zimt.

 Das steht leider nicht auf der Karte des Cafés, in dem wir sitzen. Melanie bestellt darum einen Chai Latte. Der Raum ist voll, die Akustik schlecht. Melanie muss lauter sprechen, damit ich sie richtig verstehen kann. Ein paar Cafébesucher spähen neugierig rüber. Melanie ist bekannt in dem kleinen Ort, wo wir uns auf halber Strecke getroffen haben. Kein Grund, leise zu reden. Melanie spricht in normaler Lautstärke weiter. Schließlich steht sie zu dem, was sie in ihrem Leben erfahren hat. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, einen Blog zu starten, um über das alles zu sprechen - „Mellas Welt“. Dann gibt es noch eine ganze Reihe von Dingen, die Melanie helfen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ihr Freund zum Beispiel, der ihr Halt gibt. Oder ihre Malereien, die unter ihrem Motto „Aus Schwarz mach Bunt“ stehen. Dafür bemalt Melanie eine schwarze Grundschicht mit leuchtenden Farben, klebt Federn, Muscheln und Rinde auf.

Melanies Blick wandert durch das Café. Sie bestellt sich nach ihrem Chai Latte noch ein Wasser. Denn das ist jetzt ganz genau, was ihr Körper jetzt braucht.

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Vorurteil III

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20 Jahre
instagram: @balanceleben
Essgestört seit 2017
43 Kilo bei 1,58 Meter
Tiefgewicht: 36 Kilo

„An sich mag ich mich, hab mich schon immer gemocht. Trotzdem war ich vor der Magersucht nicht sicher.“
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Als Maras Vater starb, fiel sie in ein Loch. 
Während sie lernen musste, mit diesem Schmerz umzugehen, nahm Mara auch zu. Trotz ihrer schlanken Figur spürte sie die zusätzlichen acht Kilo deutlich auf den Hüften.
Also zählte Mara Kalorien, schob die Mahlzeiten vor sich her oder ließ sie ganz aus. Am Tag lief sie bis zu 30 000 Schritte – umgerechnet etwa 45 Stadion-Runden. Mara hungerte sich auf 36 Kilo runter. Sie glaubte, die Kontrolle über ihr Leben zu bekommen.  Ihren bedrohlichen Zustand realisierte sie erst spät.
Als Maras Kreislauf nach einem Jahr Hungern nach einem Fressanfall zusammenbrach, beschloss sie, wieder alles zu essen, was sie möchte. Doch als sie am nächsten Tag Hunger verspürte, wollte sich Mara sofort wieder beherrschen. Essen vermeiden, versuchen, nicht daran zu denken. 
Vergeblich. Mara wurde bewusst, was sie sich die ganze Zeit über nicht hatte eingestehen wollen: "Ich bin magersüchtig.“ Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, begann Mara wieder zu essen.

Wie geht es dir heute?
Ich würde sagen, gesund bin ich noch nicht wirklich. Aber als ich nach meinem Krankenhausaufenthalt endlich verstanden habe, dass ich ein Problem habe, habe ich beschlossen, den Kampf aufzunehmen und dabei bin ich immer noch. Ich würde sagen, Magersucht kann man nie richtig heilen. So wie es trockene Alkoholiker gibt, gibt es eben essende Magersüchtige. Und im Moment bin ich auf einem guten Weg dahin, das zu tun - ohne böse Gedanken. Die suchen mich aber momentan noch zu stark heim.
       
Was sind das für Gedanken?


Es sind Schuldgefühle, die ich nach dem Essen habe. Oder wenn ich auf der Waage stehe und die mehr anzeigt.  

Was machst du dann?

Ich rede mir gut zu. Ich sehe mich an und sage mir ich bin nicht fett. Gesund werden lohnt sich. Wenn ich mal wieder leide, hilft es mir mit meiner Mutter zu reden oder auch in dem Buch 'Friss oder stirb' von Larissa Sarand zu lesen. Oder ich oder schaue mir YouTube Videos an, zum Beispiel „Mut im bauch“ oder „hazelnutleni“. Sie vermitteln: Du bist normal! Zweimal die Woche gehe ich zur normalen Psychotherapie. Wieder zu essen, macht Angst. Aber ich denke, bei der Magersucht ist es wichtig, das Pflaster gleich ganz abzuziehen. Mit Schokolade und Keksen statt mit Reiswaffeln. Klar, manchmal ist das scheiße schwer. Aber wenn ich Kalorien einspare, geht nur alles von vorne los. Ohne Mut kommt man da nicht raus.

Was fällt noch immer unendlich schwer?

Über meinen Kalorienbedarf zu essen, ohne mich schlecht zu fühlen. Aber manchmal möchte oder muss ich eben einfach mehr essen, zum Beispiel Schokolade oder schon morgens 1000 Kalorien zum Frühstück. Dann fühle ich mich oft schlecht und kann es nicht genießen. Aber ich versuche, mir immer wieder zu sagen, dass es sich einpendeln wird. Ich schaffe es auch noch nicht, meine Kalorien gar nicht mehr zu notieren. Und ich würde auch gerne irgendwann an den Punkt kommen, an dem ich mich nicht mehr wiege. Das bringt nur Frust.

Was wird sich nach der Magersucht vielleicht nie ändern?

Irgendwo Essen zu holen und es zu genießen. Generell kalorienreiche Kost zu genießen.
Ich hoffe, mein extremer Bewegungsdrang lässt mit der Zeit nach. Aber ich werde wohl immer wissen, wieviel Kalorien Lebensmittel enthalten.

Klingt nach einem großen Sinneswandel.


Mir ist klar geworden, dass ich mir ein Jahr lang nichts gegönnt habe. Nicht ins Restaurant gegangen bin, mir nicht mal was holen konnte. Ich bin nicht bereit, weiter auf Genuss zu verzichten, nur um dünn zu sein. Mir was zu verbieten. Ich bin sicher, mein Körper weiß was er braucht, ich habe keine Lust ihm das länger vorzuenthalten, ich will endlich wieder leben. Letztendlich bringt das nichts. Niemand bewundert dich oder findet das schön, viele andere leiden körperlich extrem darunter, es hat also eigentlich nur Nachteile. Und mir ist ein bisschen Spaß am Leben ohne tausend Zwänge einfach wichtiger.


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Bücher, Youtube, Instagram

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Seit Januar 2017 hast du deinen Instagram-Account. Damals war er als Abnehm-Account gedacht. Jetzt nutzt du ihn, um öffentlich auf Magersucht aufmerksam zu machen. Warum? 

Weil es die Hölle ist. Ich will etwas bewegen, möchte so viele Leute wie möglich warnen, damit sie gar nicht erst in die Magersucht reinrutschen. Tatsächlich gibt es junge Mädchen, die magersüchtig werden wollen, was ich einfach nur grauenhaft finde. Diese Mädchen wissen nicht, was damit einhergeht. Und die Menschen aus dem direkten Umfeld reagieren auch verständnislos: "Stell dich nicht so an, iss halt normal und mach nicht so ein Theater, du bist doch dünn." Aber man sagt ja auch nicht zu einem Alkoholiker: "Hör auf zu trinken und kauf keinen Alkohol mehr, ist doch ganz leicht." Magersucht ist eine Krankheit, viele verstehen das einfach nicht. Und zu guter Letzt, um anderen Magersüchtigen Mut zu machen, da rauszukommen.

Welche Reaktionen gibt es?
 
Wenn ich Fotos poste von dem, was ich jetzt esse, fragen mich die Leute, ob ich einen Witz mache. Sonst gehen die meisten Menschen positiv damit um. Wenn man kein Tabuthema daraus macht, dann merken andere, dass sie das auch nicht müssen.

Glaubst du, das Internet verleitet dazu, magersüchtig zu werden?

Definitiv. Man muss gar keine Challenges machen oder auf „Pro Ana-Seiten“ gehen. Nutzer auf Instgram vermitteln mit ihrem perfekt inszenierten Bildern: sei durchtrainiert, schlank, schön. Nicht nur das. Sie wollen auch glauben machen, dass sie jeden Tag eine Tafel Milka auf ihrem Porridge zum Frühstück essen und dennoch ein Sixpack haben. Völliger Blödsinn. Diese Bilder sind realitätsfern - man stellt sich in tolle Positionen, hat noch nichts gegessen und zieht den Bauch ein. Dass da nicht noch viel mehr, gerade junge Mädchen, magersüchtig sind, ist fast schon ein Wunder. Dass man da verzweifelt und sich fragt, was mit einem nicht stimmt, ist klar. Oder auch: Iss stets Clean, Raw und Vegan und geh jeden Tag ins Gym. Für normale Menschen oft einfach nicht machbar, und wenn, dann macht es meistens einfach keinen Spaß. Klar, Sport kann toll sein. Und ich bin auf jeden Fall für gesunde Ernährung. Aber wenn man du mal Bock auf eine ganze Tafel Schokolade oder Tüte Chips hat: gönn es dir. Wenn man mal keine Zeit oder Lust hat zu trainieren: lass es sein.

Wie sollte man gegen diesen Perfektionismus vorgehen?


Ich wünsche mir sehr, dass diese Bewegung auf Instagram sich weiterentwickelt. Und dass es zum Beispiel mehr #fürmehrrealitätaufinstagram-Bilder gibt, damit man sieht, dass es komplett normal ist, dass man dann eben ein food Baby mit sich rumträgt. Wir sind alle nur Menschen.
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Vorurteil IV

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19 Jahre
instagram: @lafilleplume95
Magersüchtig seit 2013
Aktuell: 42 Kilo bei 1,64 Meter
Tiefgewicht: 37 Kilo

„Ich mag meine Augen, es sind die meiner Oma – ich habe sie als einzige in der Familie.“ 
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Reisen, Freunde, Momente

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Agathes Instagram-Account heißt „la fille plume“. Das Federmädchen. In Anspielung auf ihr Gewicht. Die junge Französin ist noch immer federleicht, obwohl sie wieder essen zu sich nimmt. Vor allem Flan, dessen Vanillegeschmack wie eine Geschmacksexplosion für Agathe ist.

Als ich sie frage, wann alles angefangen hat, überlegt sie kurz. Das mit der Magersucht begann vor sechs Jahren. Damals litt sie ein Jahr lang unter restriktiver Anorexie. Aber weil Magersucht im Großteil der Fälle nicht einfach passiert – und zumeist schon gar nicht, weil die Betroffenen nur abnehmen wollen -  sondern meist nur der Rattenschwanz von weitaus tiefgreifenden Problemen ist, holt Agathe weiter aus. Sie hatte eines Tages durch harte psychologische Arbeit herausgefunden, dass ihr schlimme Dinge widerfahren waren, die Agathe im Laufe der Zeit verdrängt hatte. Als Kleinkind wurde sie von einem engen Verwandten sexuell missbraucht. Trotz strafrechtlicher fühlt sich Agathe schuldig, schämt sich. „Ich war resigniert, hatte die Nase voll - von allem.“ 14 Kilo nahm Agathe weiter ab, mit 37 Kilo wurde sie in die pädiatrische Notaufnahme eingeliefert, mit Medikamenten vollgestopft. Erst während des zweiten Krankenhausaufenthaltes, der anderthalb Jahre dauerte, geht es bergauf mit Agathe - dank Antidepressiva und einer Psychologin, die sich ihr auf menschliche Weise näherte und ihr klarmachte, dass Agathe ein Recht darauf hat, sorgenfrei und uneingeschränkt zu leben.

Ende 2014 wird Agathe entlassen, in ihrem Kopf geht es ihr ein wenig besser. Wegen der intensiven Krankheit kämpft sie körperlich weiterhin mit Problemen wie Sodbrennen, Migräne, Allergien, Hormonen, Osteoporose. Zu den psychischen Belastungen schleicht sich immer noch die Magersucht. Die altbekannten Vorwürfe, gegessen zu haben, sind nichts gegen die Ängste, die Agathe zu betäuben versuchte, als sie sich mit restriktiven und bulimisch die Kontrolle über sich und ihren Körper versprach.

"Aber jetzt muss ich mich mit ihnen auseinandersetzen und kann sie nicht einfach ignorieren.“ Das ist jedes Mal so, sobald die Waage ein paar Gramm mehr anzeigt. „Es wird nie vorbei sein, zumindest wird es lange dauern. Es ist immer noch so schwer, das Essen zu genießen, ohne darüber nachzudenken. So stabil ich heute sein mag bin, werde ich doch in gewisser Hinsicht immer ein Stück weit fragil bleiben“, glaubt Agathe. Es wird ein schwieriges Stück Arbeit werden. Doch Agathe ist dazu bereit. Sie hat viel gelitten, war viel allein.

Heute konzentriert sie sich auf das, was sie gerne machen möchte. Reisen, Urlaub machen. Ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und sich sozial einzugliedern. Für sie ist es heute ein großer Erfolg, trotz Gewissensbisse und Schuldgefühle mit Freunden etwas essen zu gehen. Wann immer sie die Momente genießt und glücklich ist, spürt Agathe, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Nur danach allein zu sein, ist für sie noch schwierig.

Dann kommt die Reue wieder auf. Ihr Account auf Instagram ist abwechslungsreich gestaltet. Zumindest, wenn man sich die Post von anderen Recovery-Betroffenen ansieht. „Ich versuche, nicht nur das zu posten, was ich esse.“ Ab und zu gibt es also ein #ootd und eine Story von ihrer geliebten Katze. Dazu schreibt Agathe lange Texte, in denen sie ihre Gedanken beschreibt. Im Internet ist ihr Account in der Gegenbewegung zu den Pro Ana-Seiten angesetzt:

"Solche Seiten gaukeln vor, dass dünn sein schön ist und dass man ganz einfach durch das Nicht-Essen glücklich wird. Aber magersüchtig zu sein ist absolut nichts Wünschenswertes.“



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Hilfe

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ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen

www.anad.de


Therapienetz Essstörung

www.therapienetz-essstoerung.de


Cinderella: Beratungsstelle für Essstörungen

www.cinderella-beratung.de


Caritas: Fachambulanz für Essstörungen

www.caritas-nah-am-naechsten.de/fachambulanz-tvs-muenchen/fachambulanz-fuer-essstoerungen-muenchen


Therapie-Centrum für Essstörungen (TCE)
www.dritter-orden.de/leistungen/therapie-centrum-essstoerung



Essstörungen verstehen: "To the bone" (2017) auf Netflix:

https://www.youtube.com/watch?v=qPKBRiFbm4A



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