Essstörungen und RecoveryDas Leben nach dem HungerVier junge Menschen, die willentlich hungerten, haben eines Tages wieder angefangen zu essen. Jetzt kämpfen sie sich in die Welt des Genusses und der Zwangslosigkeit zurück. Melanie, Mara, Agathe und Janik berichten von Herausforderungen und Erfolgen - und räumen mit vier Vorurteilen über Essstörungen auf.
Text und Illustrationen von Linda Möllers
Vorurteil IDu bist magersüchtig, weil...
Vorurteil IDu bist magersüchtig, weil...„Dass es einen bestimmten Grund gibt, warum Menschen magersüchtig werden, ist völliger Blödsinn“, sagt Janik. Und wenn, dann sind es immer mehrere Faktoren, die zusammenspielen. Das ist reine Spekulation. Denn Janik weiß ja selbst nicht, warum er mit 12 Jahren anfing zu hungern. Auch nicht, warum er einfach abglitt und sich nur noch von Salat, magerem Fleisch und Magerquark ernährte. Und die Annahme, dass Menschen aus idealistisch-romantischen Intentionen heraus magersüchtig werden, ist seiner Meinung nach „Bullshit“. Er gerät dabei ins Philosophieren: Vielleicht sei die Magersucht wie eine intensive Erfahrung; ein gefährliches Selbstexperiment, von dem Janik ganz klar abrät. Wenngleich Magersüchtige freiwillig leiden und sich eine lebenserhaltende Maßnahme verbieten, setzt Janik dagegen: „Magersüchtige sind tief mit dem Leben verbunden, stellen wichtige Fragen. Vielleicht wollen sie Antworten, indem sie sich selbst und ihren Körper mehr spüren wollen.“
JANIKAnorexia nervosa/Depressionen
20 Jahre
Magersüchtig von 2010 bis 2015
Tiefgewicht: 36 Kilo bei 1,70 Meter
Heute: 73 Kilo bei 1,90 Meter
"Was ich stets an mir gemocht
habe, ist mein Humor
"
JANIK Anorexia nervosa
JANIK Anorexia nervosa
Familie, Wandern, Sport, Künste
Wenn
Janik erzählt, sprudeln die Wörter wie bei einem Wasserfall aus ihm heraus. Er
gebraucht Begriffe wie „absurd“ und „metaphysisch“. Janik ist ein helles
Köpfchen. Er erzählt begeistert von seinem Geschichts-, Germanistik- und
Religionsstudium, das ihm unheimlich gefalle. Die Leute seien unfassbar toll, alles
gebe ihm frischen Input. Janik liebt das Wandern in den Bergen, das Meer, Literatur,
Theater, seine Familie, die Nachbarskatze, die so eine beruhigende Wirkung auf
ihn hat.
Wenn Janik so erzählt, ist schwer zu glauben, dass er dunkle Zeiten
durchlebt hat, sogar an persönlichen Tiefpunkten stand.
Schließlich
hat Janik eine wunderbare Kindheit verbracht – er berichtet von tollen Urlauben,
einer tollen Familie, einem tollen Haus. Bis er sich im Alter von 12 Jahren während
einer Klassenreise erstmals beim Essen einschränkte. Er habe intuitiv gewusst,
wo er kürzertreten musste. Dabei war er immer sehr schlank gewesen, hatte viel
Sport getrieben. Nur bei seiner Mutter habe er mitbekommen, dass sie mit
Magersucht zu kämpfen gehabt hatte, als sie etwa in seinem Alter gewesen war.
Noch heute ist sie auffallend dünn. Aber wirklich realisiert habe er nicht, was
die Gedanken beim Abnehmen bewirken können. „Ich bin stufenweise
reingerutscht“, erinnert sich Janik zurück. Er habe sich mindestens zehn Mal am
Tag gewogen, bis ihn der irritierte und überforderte Kinderarzt an die
psychotherapeutische Station eines Uniklinikums verwies. Viereinhalb Monate
verbrachte Janik in der Klinik.
Der sonst
so ausgeglichene, selbstreflektierte Junge wird mit einem Mal aggressiv,
rebelliert. Das Unverständnis, warum er überhaupt behandelt
werden sollte, macht Janik unfähig zur Kooperation. „Es war wie im Film. Mir ist
erst im Nachhinein klar geworden, was da eigentlich los war.“
Janik nimmt etwa
acht Kilo zu und wird entlassen. Es geht ihm gut, bis die Klassen 2013, kurz
vor dem Abitur, in die Kursstufen übergehen. „In der 11. Klasse wurde uns
weisgemacht, dass wir jetzt Entscheidungen treffen müssten, die unser Leben
bestimmen.“ Er habe Angst gehabt, sich haltlos gefühlt. Im Nachhinein schüttelt
Janik den Kopf. Er hätte so vieles erleben können, doch es fühlt sich an, als
habe er sich die letzten fünf Jahre selbst genommen. „Man lernt aus so etwas“, sagt
Janik.
Doch als
er kurz vor dem Abi stand, erlitt Janik einen Rückfall und hungerte sich von 52
Kilo auf 36 Kilo runter.
JANIK Anorexia nervosa/Depressionen
JANIK Anorexia nervosa/Depressionen
Familie, Wandern, Sport, Künste
Dass Jungen magersüchtig werden, ist fast schon ein Tabuthema. Wollen sie nicht alle stark und breit sein? Es sei schon absurd, dass er immer dünner wurde, nahezu ein Protest, sagt Janik im Nachhinein. Zumal, weil Janik einfach nicht verstehen kann, dass die Jungen in seinem Alter ins Fitnessstudio zum Pumpen gehen und sich auf stupide Weise Muskeln antrainieren. Janik spielt trotz mangelhafter Ernährung Fußball und macht ausgedehnte Spaziergänge – allein, zwei bis drei Stunden lang. Er ist traurig und verzweifelt. Auch von seinen besten Freunden distanziert er sich. 2014 ist Janik ist am Tiefpunkt als er – auch von Depressionen geplagt – in eine Klinik gebracht wird. Die Sondierungen, die Medikamente, die unangepasste Therapie ließen ihn ganze zehn Monate lang geradezu verzweifeln.
Dann kommt er in das Klinikum Dritter Orden München, wo er eineinhalb Jahre in einer Wohngemeinschaft aufgenommen wird. Das Aufbauprogramm in München zeigt seine Wirkung: Janik nimmt 20 Kilo zu, geht sogar in die Schule und schafft schließlich sein Abitur mit 1,2. Doch vor allem sei es das soziale Umfeld und die neue Umgebung gewesen, die ihn so aufgebaut hätten, erzählt Janik. Zum einen die Therapeutin, die ihm Empathie entgegenbrachte, ihm aber auch mal einen dicken Arschtritt verpasste. Und zum anderen eine Leidensgenossin, die unter Binge Eating litt und Janik unter ihre Fittiche genommen habe. „Sie war unheimlich herzlich, hat aber gern auch mal die Regeln gebrochen.“ Wenngleich Janik nach seinem Aufenthalt im Klinikum zunächst zögerlich in Richtung neues Leben geht, scheinen ihn seine Erfahrungen in der 12. Klasse letztlich zu heilen. „Ich habe Pläne geschmiedet, Träume gewagt, Grenzen ausgetestet, verrückte Sachen ausprobiert und andere Zielrichtungen eingeschlagen. Mittlerweile bin ich gesund“, sagt Janik.
Auch die Symptomgedanken sind nahezu gänzlich verschwunden. Mit Freunden könne er wieder essen und genießen, auch wenn er noch lange bei Nahrungsmitteln mit hohem Fettgehalt wie Milch, Käse und Sahne gezögert habe. Janik liebt asiatisches Essen und Pilze in Rahmsoße mit Kartoffelknödeln. Heute ist der überaus intelligente 20-Jährige, ein strebsamer Querdenker, der „mit den Essstörungen durch“ ist, auch wenn er manchmal zur Traurigkeit tendiert. Aber neue Perspektiven und sämtliche Bereiche des Lebens, die er während dieser fünf Jahre verpasst hat, treiben ihn an. Denn seiner Meinung nach „gibt es einfach wunderbare Dinge zu tun im Leben“.
Vorurteil IIDu siehst überhaupt nicht magersüchtig aus.
Vorurteil IIDu siehst überhaupt nicht magersüchtig aus.Magersucht ist Kopfsache. Auch Menschen mit Normal- oder Übergewicht können magersüchtig sein. Nämlich dann, wenn ihre Gedanken ständig ums Essen kreisen. Wenn sie sich beim Essen einschränken oder es durch Erbrechen, Sport, Medikamente oder Abführmittel ausgleichen wollen.
MELANIEBulimie/Anorexie
37 Jahre
Essgestört seit 1997
"Ich mag meinen Humor."
MELANIE Bulimie/Anorexie
MELANIE Bulimie/Anorexie
Pferde, Farben, Rezepte
Pferde
sind schon immer Melanies Lieblingstiere gewesen. Auch Hunde, Katzen, Kaninchen,
überhaupt alles, was Fell besitzt. Für sie spielt Melanie gern den
„Futterapparat“, bringt viel Geduld auf, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Beim
Spazierengehen mit ihrem Pflegepferd Meli, das Melanie liebevoll „Melchen“
nennt, kann sie besonders gut abschalten. Tiere spenden Melanie Kraft und
Freude. In ihrer Kindheit, als die ganzen Probleme in der Familie, mit ihrer
Gesundheit, in der Schule und Ausbildung auf sie einprasselten, schaute Melanie
den Pferden stundenlang beim Grasen zu. Und letztlich war es bei einem Ausritt,
als es bei Melanie so richtig Klick gemacht hat. Als sie endlich begriffen hat,
dass sich endlich etwas ändern muss. Dass sie endlich von den
Magersucht-Gedanken loskommen möchte.
Wenn Melanie heute eine Herausforderung meistert, klebt sie einen
Elefanten-Sticker in ihr Ernährungstagebuch - keinen Pferdesticker. „Weil ich
dann eine Aufgabe bewältigt habe, die riesig und unüberwindbar schien“, erklärt
sie. Zum Beispiel, wenn sie dem zwanghaften Drang, unbedingt Sport treiben zu
müssen, nicht nachgibt. Früher hat es nämlich nicht gezählt, ob sie keine Lust
oder keine Zeit für Sport hatte. Da ging es einfach nur darum, Kalorien zu
verbrennen. Wieder das auszugleichen, was man an Nahrung zu sich genommen hat. Die
Kontrolle über das zu gewinnen, was man in seinem Leben noch am ehesten
beeinflussen kann. Melanie verspürte dieses Hochgefühl, nach dem Erbrechen.
Macht und Erleichterung, im wahrsten Sinne des Wortes.
Melanie kämpft gegen diese Zwänge an. Wenn sie standhaft ist, hat sie sich
einen Elefantensticker verdient.
Trotzdem treibt Melanie so oft wie möglich Sport. Aber nur dann, wenn sie auch
wirklich will und es Spaß macht. Neulich hat sie dank ihres Freundes das
Kick-Boxen entdeckt. „Damit kann ich richtig Dampf ablassen.“ Und als ich Melanie
im Café treffe, berichtet sie stolz, dass sie schon joggen war. Eine Stunde
kann sie mittlerweile unterwegs sein. An anderen Tagen geht sie ins
Fitnessstudio. „Lass mich raten – du willst abnehmen“, sagte der Trainer beim
ersten Mal zu ihr, als er Melanies Trainingsplan erstellen wollte. „Nicht
wirklich“, war Melanies Antwort gewesen. Schließlich ist ihr Ziel weitaus komplexer,
viel weitgreifender zu verstehen:
Ich möchte einen gesunden, starken, definierten Körper,
in dem meine Seele gerne wohnt.
MELANIE Bulimie/Anorexie
MELANIE Bulimie/Anorexie
Pferde, Farben, Rezepte
Dass Melanie wieder ein Sättigungsgefühl verspürt und die
Dinge wieder nach etwas schmecken, ist ein großer Erfolg. Möglich gemacht hat
es das Therapienetz Essstörung, von dem Melanie vor fünf Jahren in der Zeitung
las. Erst mit dessen Angebot, dem einzelbetreuten Wohnen, sowie die Treffen mit
dem Psychiater, Schmerztherapeutin, Ernährungsberaterin und Psychologin, trugen
dazu bei, dass sich Melanie besser fühlte. Ende März 2018 wird sie sich ganz
von der Betreuung lösen und ihren Weg allein bestreiten. Nicht, ohne ihre
Erfahrung zu teilen und als eine Art „Vermittlerin“ im Auftrag des
Therapienetzes unterwegs zu sein.
Melanie weiß, dass sie jetzt allem gewachsen ist, was sie zu bewältigen hat: Von
jeher leidet sie unter chronischen Schmerzen. Nach der langen Zeit, in der sie
erbrochen hat, hat sie Schmerzen in der Speiseröhre, der Kehlkopf ist
verschleimt. Magen und Verdauung arbeiten nicht richtig. Auch, als Melanie
schon nicht mehr erbrechen wolle, fand sie am nächsten Morgen eine unreinliche
Toilette vor. Um das nächtliche Schlafwandeln zu unterbrechen, knüpfte sie ein
Netz in ihrem Flur, das sie an dem Gang zur Toilette und dem unbewussten
Erbrechen hinderte – mit Erfolg.
Melanie ist stark. Doch sie weiß:
Ein paar Krümel werden immer bleiben.
„Natürlich frage ich mich, wer ich heute wäre, wenn das
alles nicht passiert wäre“, sagt Melanie nachdenklich und ihre Hand, die auf
ihrem Unterarm liegt, greift etwas fester zu. Früher glaubte sie, mit der
Essensregulierung und dem Erbrechen die Kontrolle über ihr Leben zu behalten.
Aber die hat sie dadurch gewonnen, dass sie sie abgegeben hat, nämlich bei den
Dingen, die sie nicht beeinflussen muss. Melanie ist gelassen, berichtet von
den Erfolgen, die sie heute hat. „Wenn ich Hunger habe, dann ist das eben so.
Und wenn ich Lust auf Süßes oder Fettiges habe, dann ist das vielleicht nicht
ideal, aber es ist das, was mir mein Körper signalisiert. Das ist nicht
schlimm, weil sich auch mein Geschmack verändert hat. Ich achte darauf, was von
meinem Körper kommt.“
Nachdem sie mit der Ernährungsberaterin gelernt hatte,
wieder nach ihren Bedürfnissen zu essen, liebt Melanie Küchenexperimente.
Zurzeit findet sie großen Gefallen an der Herstellung von Energiebällchen aus
Nüssen und Datteln. Und vor dem Schlafengehen braucht sie eine besondere
„Seelennahrung“: warme Milch mit Backkakao, Honig und Zimt.
Das steht leider nicht auf der Karte des Cafés, in dem wir
sitzen. Melanie bestellt darum einen Chai Latte. Der Raum ist voll, die Akustik
schlecht. Melanie muss lauter sprechen, damit ich sie richtig verstehen kann.
Ein paar Cafébesucher spähen neugierig rüber. Melanie ist bekannt in dem
kleinen Ort, wo wir uns auf halber Strecke getroffen haben. Kein Grund, leise
zu reden. Melanie spricht in normaler Lautstärke weiter. Schließlich steht sie
zu dem, was sie in ihrem Leben erfahren hat. Sie hatte sogar mit dem Gedanken
gespielt, einen Blog zu starten, um über das alles zu sprechen - „Mellas Welt“.
Dann gibt es noch eine ganze Reihe von Dingen, die Melanie
helfen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ihr Freund zum Beispiel, der ihr Halt
gibt. Oder ihre Malereien, die unter ihrem Motto „Aus Schwarz mach Bunt“
stehen. Dafür bemalt Melanie eine schwarze Grundschicht mit leuchtenden Farben,
klebt Federn, Muscheln und Rinde auf.
Melanies Blick wandert durch das Café. Sie bestellt
sich nach ihrem Chai Latte noch ein Wasser. Denn das ist jetzt ganz genau, was
ihr Körper jetzt braucht.
Vorurteil IIIMagersüchtige essen nichts.
Vorurteil IIIMagersüchtige essen nichts."Es gibt keinen Tag, an dem ich gar nichts gegessen habe", stellt Mara klar. Magersüchtige mit Anorexia nervosa reduzieren ihre Nahrungsaufnahme radikal - essen müssen sie dennoch. Dann sind ihre Gedanken bei nichts anderem. Mahlzeiten sind für Magersüchtige sakraler Höhepunkt und knallharte Herausforderung zugleich.
MARAAnorexia nervosa
20 Jahre
instagram: @balanceleben
Essgestört seit 2017
43 Kilo bei 1,58 Meter
Tiefgewicht: 36 Kilo
„An sich mag ich mich, hab mich schon immer gemocht. Trotzdem war ich vor der Magersucht nicht sicher.“
MARA Anorexia nervosa
MARA Anorexia nervosa
Als Maras Vater starb, fiel sie in ein Loch.
Während sie lernen musste, mit diesem Schmerz umzugehen, nahm Mara auch zu. Trotz ihrer schlanken Figur spürte sie die zusätzlichen acht Kilo deutlich auf den Hüften.
Also zählte Mara
Kalorien, schob die Mahlzeiten vor sich her oder ließ sie ganz aus.
Am Tag lief sie bis zu 30 000 Schritte – umgerechnet etwa
45 Stadion-Runden. Mara hungerte sich auf 36 Kilo runter. Sie glaubte, die Kontrolle über ihr Leben zu bekommen.
Ihren bedrohlichen Zustand realisierte sie erst spät.
Als Maras Kreislauf nach einem Jahr Hungern nach einem Fressanfall zusammenbrach, beschloss sie, wieder alles zu essen, was
sie möchte. Doch als sie am nächsten Tag Hunger verspürte, wollte sich Mara
sofort wieder beherrschen. Essen vermeiden, versuchen, nicht daran zu denken.
Vergeblich. Mara wurde bewusst, was sie sich die ganze Zeit über nicht hatte
eingestehen wollen: "Ich bin magersüchtig.“ Als sie aus dem
Krankenhaus entlassen wurde, begann Mara wieder zu essen.
Wie geht es dir heute?
Ich würde sagen, gesund bin ich noch nicht
wirklich. Aber als ich nach meinem Krankenhausaufenthalt endlich verstanden
habe, dass ich ein Problem habe, habe ich beschlossen, den Kampf aufzunehmen
und dabei bin ich immer noch. Ich würde sagen, Magersucht kann man
nie richtig heilen. So wie es trockene Alkoholiker gibt, gibt es eben essende
Magersüchtige. Und im Moment bin ich auf einem guten Weg dahin, das zu tun - ohne
böse Gedanken. Die suchen mich aber momentan noch zu stark heim.
Was sind das für Gedanken?
Es sind Schuldgefühle, die ich nach dem Essen habe. Oder wenn
ich auf der Waage stehe und die mehr anzeigt.
Was machst du dann?
Ich rede mir gut zu. Ich sehe mich an und
sage mir ich bin nicht fett. Gesund werden lohnt sich. Wenn ich mal wieder
leide, hilft es mir mit meiner Mutter zu reden oder auch in dem Buch 'Friss
oder stirb' von Larissa Sarand zu lesen. Oder ich oder schaue mir YouTube
Videos an, zum Beispiel „Mut im bauch“ oder „hazelnutleni“. Sie vermitteln: Du
bist normal! Zweimal die Woche gehe ich zur normalen Psychotherapie. Wieder zu essen,
macht Angst. Aber ich denke, bei der Magersucht ist es wichtig, das Pflaster
gleich ganz abzuziehen. Mit Schokolade und Keksen statt mit Reiswaffeln. Klar,
manchmal ist das scheiße schwer. Aber wenn ich Kalorien einspare, geht nur
alles von vorne los. Ohne Mut kommt man da nicht raus.
Was fällt noch immer unendlich schwer?
Über meinen Kalorienbedarf zu essen, ohne mich schlecht zu
fühlen. Aber manchmal möchte oder muss ich eben einfach mehr essen, zum
Beispiel Schokolade oder schon morgens 1000 Kalorien zum Frühstück. Dann fühle
ich mich oft schlecht und kann es nicht genießen. Aber ich versuche, mir immer
wieder zu sagen, dass es sich einpendeln wird. Ich schaffe es auch noch nicht, meine
Kalorien gar nicht mehr zu notieren. Und ich würde auch gerne irgendwann an den
Punkt kommen, an dem ich mich nicht mehr wiege. Das bringt nur Frust.
Was wird sich nach der Magersucht vielleicht nie ändern?
Irgendwo Essen zu holen und es zu genießen. Generell
kalorienreiche Kost zu genießen.
Ich hoffe, mein extremer Bewegungsdrang lässt mit der Zeit nach.
Aber ich werde wohl immer wissen, wieviel Kalorien Lebensmittel enthalten.
Klingt nach einem großen Sinneswandel.
Mir ist klar geworden,
dass ich mir ein Jahr lang nichts gegönnt habe. Nicht ins Restaurant gegangen
bin, mir nicht mal was holen konnte. Ich bin nicht bereit, weiter auf Genuss zu
verzichten, nur um dünn zu sein. Mir was zu verbieten. Ich bin sicher, mein
Körper weiß was er braucht, ich habe keine Lust ihm das länger vorzuenthalten,
ich will endlich wieder leben. Letztendlich bringt das nichts. Niemand
bewundert dich oder findet das schön, viele andere leiden körperlich extrem
darunter, es hat also eigentlich nur Nachteile. Und mir ist ein bisschen Spaß
am Leben ohne tausend Zwänge einfach wichtiger.
MARA Anorexia nervosa
MARA Anorexia nervosa
Bücher, Youtube, Instagram
Seit Januar 2017 hast du
deinen Instagram-Account. Damals war er als Abnehm-Account gedacht. Jetzt nutzt
du ihn, um öffentlich auf Magersucht aufmerksam zu machen. Warum?
Weil es die Hölle ist. Ich will etwas bewegen, möchte so
viele Leute wie möglich warnen, damit sie gar nicht erst in die Magersucht
reinrutschen. Tatsächlich gibt es junge Mädchen, die magersüchtig werden
wollen, was ich einfach nur grauenhaft finde. Diese Mädchen wissen nicht, was
damit einhergeht. Und die Menschen aus dem direkten Umfeld reagieren auch verständnislos:
"Stell dich nicht so an, iss halt normal und mach nicht so ein Theater, du
bist doch dünn." Aber man sagt ja auch nicht zu einem Alkoholiker:
"Hör auf zu trinken und kauf keinen Alkohol mehr, ist doch ganz
leicht." Magersucht ist eine Krankheit, viele verstehen das einfach nicht. Und
zu guter Letzt, um anderen Magersüchtigen Mut zu machen, da rauszukommen.
Welche Reaktionen gibt es?
Wenn ich Fotos poste von dem, was ich jetzt esse, fragen mich
die Leute, ob ich einen Witz mache. Sonst gehen die meisten Menschen positiv damit
um. Wenn man kein Tabuthema daraus macht, dann merken andere, dass sie das auch
nicht müssen.
Glaubst du, das Internet verleitet dazu, magersüchtig zu
werden?
Definitiv. Man muss gar keine Challenges machen oder auf „Pro
Ana-Seiten“ gehen. Nutzer auf Instgram vermitteln mit ihrem perfekt
inszenierten Bildern: sei durchtrainiert, schlank, schön. Nicht nur das. Sie
wollen auch glauben machen, dass sie jeden Tag eine Tafel Milka auf ihrem
Porridge zum Frühstück essen und dennoch ein Sixpack haben. Völliger Blödsinn. Diese
Bilder sind realitätsfern - man stellt sich in tolle Positionen, hat noch
nichts gegessen und zieht den Bauch ein. Dass da nicht noch viel mehr, gerade
junge Mädchen, magersüchtig sind, ist fast schon ein Wunder. Dass man da
verzweifelt und sich fragt, was mit einem nicht stimmt, ist klar. Oder auch: Iss
stets Clean, Raw und Vegan und geh jeden Tag ins Gym. Für normale Menschen oft
einfach nicht machbar, und wenn, dann macht es meistens einfach keinen Spaß.
Klar, Sport kann toll sein. Und ich bin auf jeden Fall für gesunde Ernährung.
Aber wenn man du mal Bock auf eine ganze Tafel Schokolade oder Tüte Chips hat: gönn
es dir. Wenn man mal keine Zeit oder Lust hat zu trainieren: lass es sein.
Wie sollte man gegen diesen Perfektionismus vorgehen?
Ich wünsche mir sehr, dass diese Bewegung auf
Instagram sich weiterentwickelt. Und dass es zum Beispiel mehr
#fürmehrrealitätaufinstagram-Bilder gibt, damit man sieht, dass es komplett
normal ist, dass man dann eben ein food Baby mit sich rumträgt. Wir sind alle
nur Menschen.
Vorurteil IVDu hast zugenommen, dir geht‘s wieder gut.
Vorurteil IVDu hast zugenommen, dir geht's wieder gut.Seit Agathe wieder isst, hat sie fünf Kilo zugenommen, wiegt mittlerweile um die 40 Kilo. Aber gesund ist sie lange nicht. Denn mit jedem neuen Kilo kommen ihre tiefsten Ängste hoch, die sie mit ihrer Magersucht betäuben wollte.
AGATHEAnorexia nervosa/Bulimie/Depressionen
19 Jahre
instagram: @lafilleplume95
Magersüchtig seit 2013
Aktuell: 42 Kilo bei 1,64 Meter
Tiefgewicht: 37 Kilo
„Ich mag
meine Augen, es sind die meiner Oma – ich habe sie als einzige in der Familie.“
AGATHE Anorexia nervosa/Bulimie/Depressionen
AGATHE Anorexia nervosa/Bulimie/Depressionen
Reisen, Freunde, Momente
Agathes Instagram-Account heißt „la fille
plume“. Das Federmädchen. In Anspielung auf ihr Gewicht. Die junge Französin
ist noch immer federleicht, obwohl sie wieder essen zu sich nimmt. Vor allem
Flan, dessen Vanillegeschmack wie eine Geschmacksexplosion für Agathe ist.
Als ich sie frage, wann alles angefangen hat, überlegt sie kurz. Das mit der Magersucht begann vor sechs Jahren. Damals litt sie ein Jahr lang unter
restriktiver Anorexie. Aber weil Magersucht im Großteil der Fälle nicht einfach
passiert – und zumeist schon gar nicht, weil die Betroffenen nur abnehmen
wollen - sondern meist nur der
Rattenschwanz von weitaus tiefgreifenden Problemen ist, holt Agathe weiter aus.
Sie hatte eines Tages durch harte psychologische Arbeit herausgefunden, dass
ihr schlimme Dinge widerfahren waren, die Agathe im Laufe der Zeit verdrängt
hatte. Als Kleinkind wurde sie von einem engen Verwandten sexuell missbraucht.
Trotz strafrechtlicher fühlt sich Agathe schuldig, schämt sich. „Ich war resigniert,
hatte die Nase voll - von allem.“ 14 Kilo nahm Agathe weiter ab, mit 37 Kilo
wurde sie in die pädiatrische Notaufnahme eingeliefert, mit Medikamenten
vollgestopft. Erst während des zweiten Krankenhausaufenthaltes, der anderthalb
Jahre dauerte, geht es bergauf mit Agathe - dank Antidepressiva und einer
Psychologin, die sich ihr auf menschliche Weise näherte und ihr klarmachte,
dass Agathe ein Recht darauf hat, sorgenfrei und uneingeschränkt zu leben.
Ende
2014 wird Agathe entlassen, in ihrem Kopf geht es ihr ein wenig besser. Wegen der
intensiven Krankheit kämpft sie körperlich weiterhin mit Problemen wie
Sodbrennen, Migräne, Allergien, Hormonen, Osteoporose.
Zu den psychischen Belastungen schleicht sich immer
noch die Magersucht. Die altbekannten Vorwürfe, gegessen zu haben, sind nichts
gegen die Ängste, die Agathe zu betäuben versuchte, als sie sich mit restriktiven
und bulimisch die Kontrolle über sich und ihren Körper versprach.
"Aber jetzt muss ich mich mit ihnen auseinandersetzen und kann
sie nicht einfach ignorieren.“ Das ist jedes Mal so, sobald die Waage ein paar
Gramm mehr anzeigt. „Es wird nie vorbei sein, zumindest wird es lange dauern. Es
ist immer noch so schwer, das Essen zu genießen, ohne darüber nachzudenken. So
stabil ich heute sein mag bin, werde ich doch in gewisser Hinsicht immer ein
Stück weit fragil bleiben“, glaubt Agathe. Es wird ein schwieriges Stück Arbeit
werden. Doch Agathe ist dazu bereit.
Sie hat viel gelitten, war viel allein.
Heute konzentriert
sie sich auf das, was sie gerne machen möchte. Reisen, Urlaub machen. Ihren
Platz in der Gesellschaft zu finden und sich sozial einzugliedern. Für sie ist
es heute ein großer Erfolg, trotz Gewissensbisse und Schuldgefühle mit Freunden
etwas essen zu gehen. Wann immer sie die Momente genießt und glücklich ist,
spürt Agathe, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Nur danach allein zu sein,
ist für sie noch schwierig.
Dann kommt die Reue wieder auf.
Ihr Account auf Instagram ist abwechslungsreich gestaltet. Zumindest,
wenn man sich die Post von anderen Recovery-Betroffenen ansieht. „Ich versuche,
nicht nur das zu posten, was ich esse.“ Ab und zu gibt es also ein #ootd und
eine Story von ihrer geliebten Katze. Dazu schreibt Agathe lange Texte, in
denen sie ihre Gedanken beschreibt. Im Internet ist ihr Account in der Gegenbewegung
zu den Pro Ana-Seiten angesetzt:
"Solche Seiten gaukeln vor, dass dünn sein schön
ist und dass man ganz einfach durch das Nicht-Essen glücklich wird. Aber
magersüchtig zu sein ist absolut nichts Wünschenswertes.“
Anlaufstellen bei Essstörungen Hilfe und Therapieangebote in München
Anlaufstellen bei Essstörungen Hilfe und Therapieangebote in München
ANAD e.V.
Versorgungszentrum Essstörungen
www.anad.de
Therapienetz Essstörung
www.therapienetz-essstoerung.de
Cinderella: Beratungsstelle für Essstörungen
www.cinderella-beratung.de
Caritas: Fachambulanz für Essstörungen
www.caritas-nah-am-naechsten.de/fachambulanz-tvs-muenchen/fachambulanz-fuer-essstoerungen-muenchen
Therapie-Centrum für Essstörungen (TCE)
www.dritter-orden.de/leistungen/therapie-centrum-essstoerung
Essstörungen verstehen: "To the bone" (2017) auf Netflix:
https://www.youtube.com/watch?v=qPKBRiFbm4A